Warum wir in der Schweiz (noch) so viel arbeiten
Obwohl der Wohlstand in der Schweiz weiterhin wächst, arbeiten wir mit durchschnittlich 41,7 Stunden pro Woche länger als viele europäische Nachbarn. Veit Hailperin nennt dafür kulturelle und historische Gründe: Später eingeführte Sozialversicherungen, eine ausgeprägte Arbeitsmoral und der Mythos, dass Wert nur durch Arbeit entsteht. Doch genau diese Haltung stellt er infrage: Wer weniger arbeitet, kann sogar leistungsfähiger sein.
Modelle, die funktionieren: Von 100-80-100 bis 25 Stunden pro Woche
Das bekannteste Modell heisst 100-80-100: 100 % Lohn, 80 % Zeit, 100 % Leistung. Und das funktioniert nicht nur im Büro. Veit arbeitet mit ganz unterschiedlichen Unternehmen: Sanitärbetriebe, NGOs, IT-Dienstleister oder Banken. Ein Beispiel ist die Raiffeisenbank Herisau: Sie hat ihre Öffnungszeiten clever verändert und so sogar mehr Kundengespräche geführt.
Andere Unternehmen wie Digital Rheingans zeigen, dass auch eine 25-Stunden-Woche realistisch ist. Der Unterschied liegt in der konsequenten Optimierung: Fokuszeiten, klare Prozesse, weniger Meetings.
Die richtigen KPIs: Was wirklich zählt
Viele fragen: "Wie misst man Erfolg bei der Vier-Tage-Woche?" Die Antwort: Es gibt keine 08/15-Kennzahlen, die sich einfach über alle Branchen stülpen lassen. Wichtig ist, dass du als Unternehmen zuerst deine eigenen Ziele und Herausforderungen kennst. Veit empfiehlt, mit der Motivation zu starten: Warum willst du die Arbeitszeit reduzieren? Geht es dir um mehr Zufriedenheit im Team, um weniger Fluktuation, um bessere Ergebnisse oder um eine attraktivere Arbeitgebermarke?
Daraus lassen sich individuelle KPIs ableiten. Beispiele könnten sein: Umsatzentwicklung im Vergleich zur Vorperiode, Anzahl geführter Kundengespräche, qualitative Feedbacks von Mitarbeitenden, Produktivitätskennzahlen oder auch reduzierte Fehlzeiten. Wichtig ist dabei, dass du überhaupt misst – viele Unternehmen starten mit simplen Pulsumfragen oder setzen auf bewährte Messinstrumente wie den Net Promoter Score (NPS) für Mitarbeitende. So bekommst du ein realistisches Bild über die Wirkung deiner neuen Arbeitszeitmodelle.
KI als Verstärker oder doch ein Risiko?
Künstliche Intelligenz kann helfen, repetitive Aufgaben zu automatisieren und dadurch wertvolle Zeit zu sparen. Doch Achtung: Nicht jede Firma ist digital reif. Veit schildert Beispiele aus dem Alltag: Vom Sanitärbetrieb mit QR-Codes zur Werkzeugverwaltung bis zu KMU, die PDFs ausdrucken und anschliessend wieder einscannen, um digitale Kopien zu erzeugen. Diese Praxis zeigt: Ohne durchdachte, digitale Prozesse bringt dir selbst das beste Arbeitszeitmodell herzlich wenig.
Ein weiteres Risiko: KI ersetzt vor allem "white collar jobs" – also Jobs im Büro, in der Administration oder im Marketing. Und genau in diesen Bereichen arbeiten mehrheitlich Frauen. Der Gender-Gap könnte sich dadurch noch verschärfen. Frauen haben oft weniger Zugang zu technischer Weiterbildung, arbeiten öfters Teilzeit und werden seltener in Digitalisierungsprozesse eingebunden.
Hier braucht es proaktive Massnahmen: gezielte Weiterbildung, barrierefreie Tools und die klare Einbindung von Frauen in Transformationsprojekte. Nur so kann KI ihre Rolle als Produktivitätsbooster entfalten, ohne neue Ungleichheiten zu schaffen.
Employer Branding und Fachkräftemangel
Viele Firmen führen die vier Tage Woche nicht ein, weil ihre Mitarbeitenden danach rufen – sondern weil sie keine mehr finden. Die Arbeitszeitreduktion wird zum strategischen Hebel gegen den Fachkräftemangel. Sie verbessert das Employer Branding, senkt Recruiting-Kosten und bindet Talente langfristig.
Veit bringt es auf den Punkt: "Nicht die Arbeitnehmenden fordern weniger Arbeit. Die Arbeitgebenden brauchen dringend neue Antworten."
Gleichberechtigung, Care-Arbeit und Familienzeit
In der Schweiz sind Kinderbetreuung und Elternzeit ausbaufähig. Die vier Tage Woche bietet die Chance, Care-Arbeit gerechter zu verteilen. Veit bringt Beispiele aus Litauen, wo Eltern von Kleinkindern 32 Stunden pro Woche bei vollem Lohn arbeiten. In der Schweiz leisten Väter durch die Vier-Tage-Woche mehr Betreuungsarbeit – was auch dem Gender Pay Gap entgegenwirken kann.